Pflichtdienst: Eine gute Idee?

Freiwilligendienste vs. Pflichtdienste: Die Unterschiede

 

Was ist ein Freiwilligendienst?

Freiwilligendienste im In- und Ausland sind eine besondere Form des bürgerschaftlichen Engagements. Freiwilligendienste fördern das Einnehmen neuer Perspektiven und die Fähigkeit, sich mit gegenteiligen Meinungen auseinanderzusetzen und erhöhen die Sozialkompetenzen. Das Bewusstsein junger Menschen für den Wert von Solidarität und gesellschaftlichem Zusammenhalt wird geschärft. In den Einsatzstellen übernehmen Freiwillige Hilfstätigkeiten, die Fachkräfte entlasten. Sie treiben Projekte voran, die im Alltag aufgrund begrenzter Kapazitäten zurückgestellt werden würden. Gesellschaftlichen Fragmentierungsprozessen wird entgegengewirkt, indem sich alle jungen Menschen milieuübergreifend einbringen können. Konstitutives Element der Dienste ist die Freiwilligkeit der Teilnehmer*innen. Denn nur diese motiviert zu weiterem freiwilligen Engagement.

Was ist ein Pflichtdienst?

Einen Pflichtdienst gibt es aktuell in Deutschland nicht, die Debatte über eine mögliche Einführung wird jedoch immer wieder angefacht. Seit 2023 werden auch die Stimmen um eine Wiedereinsetzung der Wehrpflicht lauter. Die Grundidee eines sozialen Pflichtdienst ist, junge Menschen dazu zu verpflichten, sich ein Jahr für die Gesellschaft zu engagieren. Dabei haben viele den Zivildienst im Kopf, der 2011 mit der Aussetzung der Wehrpflicht in Deutschland faktisch beendet wurde. 

Warum ein Pflichtdienst nicht nötig ist

Junge Menschen müssen nicht zu sinnvollen Tätigkeiten gezwungen werden. Das beweisen jedes Jahr rund 100.000 überwiegend junge Menschen, die sich in einem Freiwilligendienst engagieren.

„Der Staat kann Ehrenamt und Engagement durch weniger Bürokratie und mehr Anerkennung unterstützen, aber er kann nicht darüber verfügen. Solidarität und Gemeinsinn lassen sich nur wirklich in Menschen verwurzeln, wenn sie sich freiwillig und selbstbestimmt dafür entscheiden.“ Lisi Maier, BDKJ-Bundesvorsitzende (2012-2021)

Oft argumentieren Menschen, die selbst einen Zivildienst absolviert haben, sich aufgrund des Dienstes anschließend für einen sozialen Beruf entschieden zu haben. Dabei werden oft jene vergessen, die durch schlechte Erfahrungen im Zivildienst, beispielsweise durch unzureichende Begleitung oder qualitativ schlechte Bildungsangebote, keinen sozialen Beruf ergriffen haben. Auch ist nicht nachzuweisen, wie viele Menschen nicht ohnehin, durch andere Erfahrungen, den Wunsch nach einem sozialen Beruf verspürt haben. Ein Pflichtdienst widerspricht sogar der Europäischen Menschenrechtskonvention, nach der niemand gezwungen werden darf, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten. Einzige Ausnahme wäre eine Wehrpflicht in einer existentiellen Bedrohungssituation. Hiervon kann jedoch mit Blick auf eine defizitäre Sozialpolitik wie auch auf eine nicht gelungene Bundeswehrreform keine Rede sein. 

Mit einem Rechtsanspruch, bei dem jede geschlossene Freiwilligendienst-Vereinbarung durch eine Förderung ermöglicht wird, liegt ein attraktiver, kostengünstiger und pragmatischer Gegenentwurf vor, der die wenigen positiven Effekte der Dienstpflicht ebenso erfüllt. Gemeinsam mit einer entsprechenden Informationskampagne, einer „Einladung der Gesellschaft“ zu einem Freiwilligendienst, könnte die Anzahl an Freiwilligendienstleistenden pro Jahrgang mindestens verdoppelt werden. Nur so wird ein freiwilliges Recht auf Dienst zum konkreten Gegenentwurf zu einer unsolidarischen Pflicht zum Dienst. Und nur so kann die Bundesregierung einen tatsächlich nachfragegerechten Ausbau und Stärkung der Freiwilligendienste realisieren, wie sie ihn 2021 im Koalitionsvertrag vereinbart hat.

 

Versorgungslücke nach der Wehrpflicht: Was ist dran?

Ein Zahlenspiel: Im Jahr 2008 wurden 85.149 junge Männer zum neunmonatigen Zivildienst einberufen. Hinzu kamen 24.800 Freiwilligendienstleistende. Mit der Berücksichtigung der kürzeren Einsatzzeit im Zivildienst, wurden rund 90.000 Einsatzplätze im sozialen und ökologischen Bereich besetzt.

Im Jahr 2023 leisteten rund 100.000 überwiegend junge Menschen einen Freiwilligendienst. Von einer Versorgungslücke durch die Aussetzung der Wehrpflicht kann also nicht die Rede sein. Der Pflegenotstand existiert unabhängig davon.

Im Falle einer Dienstpflicht müsste Schätzungen zu Folge für 560.000 junge Menschen eine Tätigkeit gefunden werden. Wenn davon 60.000 freiwillig zur Bundeswehr gehen, bleiben noch 500.000, die im zivilen Bereich eingesetzt werden müssten. Für 500.000 Menschen eine leistbare Tätigkeit zu finden, die der Arbeitsmarktneutralität gerecht werden würde, wäre eine kostspielige und aufwändige Verwaltungsaufgabe. Dabei entsteht außerdem die Gefahr, dass niedrig qualifizierte Menschen vom Arbeitsmarkt verdrängt werden würden. Zudem wäre es schwer leistbar, die hohen Qualitätsstandards in der pädagogischen Begleitung der Freiwilligendienste aufrecht zu erhalten. Ausgangspunkt der Argumentation für die Möglichkeit zum Engagement müssen die Bedürfnisse der jungen Menschen und nicht die Bedürfnisse der Einrichtungen sein. Zudem überschreiten die geschätzten Kosten für einen Pflichtdienst die geschätzten Kosten für einen Rechtsanspruch auf Förderung eines jeden geschlossenen Freiwilligendienstvertrages um den Faktor fünf bis acht.

 

Soziale Berufe sind anspruchsvoll und wertvoll!

Ja, wir haben in Deutschland einen Pflegenotstand. Und ja, an diesem Fachkräftemangel muss dringend gearbeitet werden. Begegnen wir dem Fachkräftemangel in sozialen und pflegerischen Berufen jedoch mit einem Pflichtdienst, würde das der dringend notwendigen Aufwertung der Berufe in diesem Bereich im Wege stehen. Was soziale Berufe brauchen ist eine angemessene Bezahlung, ein professionelles Arbeitsumfeld und Wertschätzung durch die Gesellschaft. Ist der Bereich bei vielen mit Zwang verbunden, werden wichtige soziale Berufe in den Köpfen der Menschen eher abgewertet.

Woher kommt die Debatte um den Pflichtdienst?

Die Debatte rund um Pflichtdienste hat ihren Ursprung in der Diskussion um Personalmangel in der Bundeswehr. In Zeiten von Fachkräftemangel im Pflegesektor werden verpflichtende Sozialdienste als Antwort auf drängende Fragen der Gesellschaft immer wieder reflexartig ins Spiel gebracht. Befürworter*innen erhoffen sich einen Beitrag gegen die Entsolidarisierung der Gesellschaft.

Wir sagen: Es ist zutiefst unsolidarisch, nur eine bestimmte Personengruppen – hier wird in der Regel auf junge Menschen ab dem 18. Lebensjahr abgehoben – in die Pflicht zu nehmen um Versäumnisse an anderer Stelle zu kompensieren. Wie würde „die Gesellschaft“ reagieren, wenn die Pflichtdienstforderung nicht an die 18-Jährigen sondern beispielsweise an alle Rentner*innen adressiert wäre?

Wir fordern zusammenfassend:

  • Eine Abkehr von der politischen Diskussion um einen sozialen Pflichtdienst und die Beibehaltung der Aussetzung der Wehrpflicht.
  • Eine gesetzliche Garantie und ein entsprechendes Recht auf auskömmliche Förderung einer jeden Vereinbarung, die zwischen Freiwilligen, Trägern und Einsatzstellen zustande kommt. Aus jedem geschlossenen Vertrag für einen erstmaligen Freiwilligendienst im In- oder Ausland muss ein Rechtsanspruch auf ausreichende Förderung nach den bewährten Verfahren der einzelnen Programme erwachsen. Die Abdeckung der Kosten durch Bundesmittel und daraus resultierende Planungssicherheit würde zudem mehr Einsatzstellen generieren.
  • Die Einführung eines unverbindlichen Informationsschreibens des*der Bundespräsident*in an alle Schulabgänger*innen mit Informationen und der Einladung, sich bewusst für einen Freiwilligendienst zu entscheiden. Eine Anpassung des Schreibens an regionale Begebenheiten kann erfolgen.

Kontakte

Raphael Marquart

Referent für Freiwilligendienste
Tel. 0211 / 4693-171
marquart[at]bdkj.de

Gregor Podschun

BDKJ-Bundesvorsitzender
Tel. 02 11 / 46 93 - 162
podschun[at]bdkj.de